
Prolog – ein Auszug
Ich blicke auf, reibe mir den Sand aus den Augen und richte mich langsam auf. Ich schlage die Seidendecke zurück, berühre mit den Füßen seicht den Dielenboden und stehe auf. Alles dreht sich um mich herum. Der ganze Raum um mich fühlt sich an wie eine Achterbahn und mir fällt es schwer, mich auf den Beinen zu halten. Ich drehe mich um 180 Grad. Und ich sehe ihn. Er sitz da, den Rücken zu mir gewandt an einer rustikalen und mit Farbspritzern überdeckten Eichenstaffelei. Eine große Leinwand lehnt vor ihm und durch seine akkuraten und präzise gesetzten Pinselstriche zeichnet sich ein Mond ab – ein kühler, weißer Mond, der sich im Wasser in den gleichen kühlen Tönen spiegelt.
Ich konzentriere mich auf das monotone Streichen, greife nach dem Bettgeländer und halte mich daran fest. Das Holz ist ganz rau und ich versuche, mich einen Schritt vorwärts zu bewegen. Der Dielenboden unter mir knarzt.
„Guten Morgen, Dornröschen.“
Ich schaue in seine Richtung in der Hoffnung, er würde sich zu mir umdrehen, doch er widmet sich weiterhin seinen Acrylfarben, setzt hier und da einen Pinselstrich und begutachtet sein Werk. Stumm beobachte ich ihn dabei, setze einen Fuß vor den anderen und klammere mich noch immer am Bettgestell fest. Meine Knie zittern und ich habe das Gefühl, dass meine Beine mein Gewicht nicht tragen können und ich jeden Moment falle. Ich bleibe stehen, kralle mich noch stärker an die Holzlatte, schließe kurz die Augen, um tief durchzuatmen. Um mich herum dreht sich immer noch alles. Als ich versuche, den nächsten Schritt zu gehen, geben meine Knie nach und ich falle. Schon in dem Moment, als ich mich innerlich darauf vorbereitet habe, gleich mit dem harten Boden Bekanntschaft zu machen, finde ich mich stattdessen in seinen Armen wieder. Der Duft von Sandelholz, Moschus und einem Hauch Lavendel umgibt mich. Sein Lieblingsparfum. Gefühlt mehrere Minuten schaue ich in seine tiefgrünen Augen. Und ich habe dabei das Gefühl, mich darin völlig zu verlieren.
„Du solltest vielleicht doch noch etwas liegen bleiben und dich ausruhen. Du hast dir gestern ziemlich den Kopf angeschlagen.“
Noch immer kommt kein einziges Wort über meine Lippen. Mit einem Lächeln auf den Lippen legt er mich aufs Bett und setzt sich an die Bettkante neben mich.
„Kannst du dich an irgendwas von gestern Mittag erinnern?“
Ich schaue ihn immer noch an und schüttle mit dem Kopf.
„Nicht wirklich.“
, erwidere ich. Er lacht.
„Ein Wunder! Sie kann ja doch noch sprechen!“
, erwidert er.
Ich stehe unter der Dusche – wie hypnotisiert und lasse das warme Wasser meine Haut hinunterlaufen. Nach einer gefühlten Ewigkeit drehe ich mich herum und greife nach dem Duschknopf. Der Edelstahl fühlte sich angenehm kühl an. Ich drehe den Knopf nach links und das Wasser hört auf aus dem Duschkopf zu laufen. Meine Knie wanken noch immer unter meinem Körpergewicht, aber ich schaffe es dennoch, ohne zu straucheln die Tür zu öffnen und mir ein Handtuch um den Körper zu wickeln. Der Baumwollstoff riecht angenehm nach Rebekkas Lieblingswaschmittel und die Breite des Handtuchs passt genau von meinem Oberkörper bis knapp über meinen Po. Ich wische das Kondenswasser vom Spiegel und betrachte mich. Meine tropfnassen Haare hängen wahllos von meinem Kopf herunter und kleben an meinem Nacken und meinen Schultern. Auf der rechten Seite meines Kopfes zeichnet sich eine kleine Wölbung ab und als ich mit dem Kamm meine Haare durchkämme, merke ich erst, wie sehr die Beule schmerzt. Ich entscheide mich also dafür, den Kamm zurück auf den für ihn vorgesehen Platz neben dem Marmorwaschbecken zu legen und sehe mich um. Meine Kleidung von gestern kann ich nicht noch einmal anziehen, ich brauche definitiv frische. Da fällt mir der perfekt zusammengelegte Stapel Kleidung auf der Holzbank neben der Dusche auf. Wahrscheinlich von Rebekka, denke ich. Ich schlüpfe in die schwarze Fischgrätenstrumpfhose und ziehe mir das Hemdkleid über. So gut, wie es sitzt, kann es nicht von Rebekka sein. Meine Hüften sind viel breiter als ihre und das Seidenkleid umschmeichelt meine weiblichen Rundungen. Ich betrachte mich im Spiegel, lege meine Haare auf eine Seite, drehe sie zwischen meinen Fingern hin und her und starre die Wand an. Das Gelächter, das von unten von Nick und Rebekka herauf hallt, reißt mich aus meiner Geistesabwesenheit. Suchend schaue ich mich nach meinen Schuhen von gestern um und laufe zurück in das Zimmer. Am Fußende des Bettes stehen meine Tasche und meine Boots. Unter dem Knarren des Dielenbodens laufe ich zurück zum Bett und lasse mich darauf fallen. Während ich Duschen war, muss einer der beiden im Zimmer gewesen sein, um das Bett zu machen. Sofort fühle ich mich irgendwie schlecht, weil ich zu lange unter dem wohltuenden warmen Wasserstrahl gestanden habe. Ich bücke mich und greife nach meinen Schuhen. Meine Tasche steht noch genauso da, wie ich sie gestern zurückgelassen hatte, als ich in das Zimmer gegangen bin und … Das letzte an das ich mich von gestern erinnern kann ist, dass ich hier hoch gegangen bin, um mit Kale zu telefonieren. Und anstatt eines leeren Raumes, fand ich ihn vor…
Die Wände sind vorwiegend weiß. Lediglich in ein, zwei Räumen durfte der Maler die Wände in ein helles, warmes beige färben. In jedem Raum, bis auf den Badezimmern, liegen dunkelgraue Dielen, die perfekt zur eleganten Inneneinrichtung passen. Die weißen Möbel verschmelzen perfekt mit der Wandfarbe und alles sieht aus, als müsste es so sein – als könnte es nie anders sein. Interieur in Perfektion. Die große Bücherwand in der Wohnküche unterbricht die starke Struktur der Wohnung und lässt sie wohnlich erscheinen. Auf dem großen grauen Sofa in der Mitte des Raumes sind nebeneinander, in perfekter Ausrichtung die verschiedensten pastell-farbigen Kissen aufgereiht. „Wo hat sie die nur alle her?“, frage ich mich. Auf dem Glastisch davor: ein großer Blumenstrauß. Mindestens 20 rosafarbene Tulpen stehen in der anthrazitfarbenen Porzellanvase wie eine eins kerzengerade. Mir fällt auf, dass in der gesamten Wohnung verteilt, fast in jeder Ecke eines Raumes Blumen stehen. Auf dem Esstisch, neben dem Bücherregal und sogar auf dem Kamin aus weiß-grauem Marmor. Tulpen und Hortensien. Keine andere Blumenart. Ich frage mich, ob Nick diese ganzen Blumen kauft oder ob Bekka sie sich selbst kauft. Mein Blick schweift zurück zum Esstisch. Die weißen Schwingstühle harmonieren perfekt zur gesamten Einrichtung. Die Kombination aus hellgrauem Massivholzgestell und Glasplatte lässt den Esstisch sowohl modern, als auch antik wirken. Und auch, wenn ich mir diesen Tisch so nie zu dieser Inneneinrichtung gekauft hätte, so integriert er sich dennoch in den Raum. Sogar die Wandbilder sind aufeinander abgestimmt. Jedes Bild rahmt exakt der gleiche schwarze Bilderrahmen und über Sofa und Esstisch hängen einwandfrei zueinander passende Bilder. Alles an dieser Wohnung ist komplett durchdacht. Alles passt zueinander. Die langen hellgrauen Vorhänge an der Fensterwand schaffen die nötige Privatsphäre ohne aber zu viel Licht zu schlucken. Die dunkelgraue Küche hebt sich durch die hellgraue Arbeitsplatte und die zahlreichen Küchengeräte vom Rest der Wohnung ab, jedoch ohne einen Stilbruch zu schaffen. Und alles wirkt so makellos.
„Möchtest du dich nicht setzen, Liebes?“
, reißt mich Rebekka aus meinen Gedanken. Ihr Blick ist auf mich gerichtet und ihre Augen sehen mich fragen an. Ich nicke und laufe auf den Tisch zu, als Nick zwei Schritte auf mich zugeht, um meinen Stuhl zurück zu rücken. Ich lächle ihm zu und setze mich. Rebekka trägt die gleiche Frisur wie gestern: ihre schönen langen blonden Haare gewellt und auf der einen Seite zurückgesteckt. Ihr rosafarbener Lippenstift schmeichelt ihrer Gesichtsform und passt zu ihrer smaragdgrünen Bluse mit dem Spitzensaum, die sie trägt. Sie sitzt, den Ellenbogen auf den Tisch gestützt und ihr Gesicht in ihre Hand gelegt da und wartet, bis Nick mit dem Saft fertig ist. „Geht das auch ein bisschen schneller oder müssen wir noch bis morgen warten?“ Sie verdreht die Augen und fährt dabei mit ihrer freien Hand durch ihre Haare. Noch bevor sie ihren Arm wieder auf der Stuhllehne ablegen konnte, fallen ihre Haare wieder in die richtige Position zurück. Ich sollte sie wohl fragen, was sie für Produkte benutzt, denke ich während ich auf meine immer noch nassen Haare schaue, die ich wahrscheinlich schon die ganze Zeit zwischen meinen Fingern hin und her drehe.
„Bist du irgendwie nervös, Hayley?“
, fragt mich Nick, als er die drei Gläser Orangensaft auf den Tisch stellt.
„Ähm, nein, wieso?“
, gebe ich zurück. Er zieht seinen Stuhl zurück und lässt sich hineinfallen, greift nach der Kaffeekanne und schenkt erst Rebekka und dann sich selbst ein, dann deutet er auf meine Tasse und sieht mich fragend an. Ich schüttle den Kopf als Antwort. Er stellt die Kanne hin und dreht sich mir zu:
„Naja – du wirkst etwas angespannt.“
Er deutet mit den Augen auf meine Hand, die noch immer meine langen nassen Haare im Griff hat. Sofort ziehe ich meinen Arm weg und lege sie auf mein Bein.
„Nein, nein. Es ist nur …“
„Nun lass sie doch erstmal etwas essen!“
, unterbricht mich Bekka.
„Ich denke sie braucht erst einmal etwas Energie nach gestern Abend.“
Ihr Blick liegt auf Nicholas, doch er schaut noch immer mich an. Er runzelt die Stirn und über seiner Nase bildet sich ein kleines V. Als er das nächste Mal blinzelt, schaut er zu Rebekka und wirft ihr einen bösen Blick zu. Er atmet zwei Mal hörbar ein und aus, streift seine Hände an seiner Jeans ab und greift nach dem Korb, in denen sich die köstlich riechenden Croissants befinden.
„Das dritte ist das dunkelste. Das magst du doch so gern.“
, sagt er während er mir den Korb hinhält. Ich schenke ihm ein dankendes Lächeln und greife natürlich zu dem Croissant, welches er mir empfohlen hat. Das Plunderteigstück hat eine perfekte zarte und doch rösche Kruste. Ich greife nach dem Blütenhonig, der hinter dem Butterdöschen zwischen der Erdbeermarmelade und dem Pflaumenmus steht, fülle eine walnussgroße Menge in die dafür vorgesehene kleine Schale und stelle das Honigglas wieder zurück an seinen Ort. Ich nippe einmal an meinem Orangensaft, bevor ich meinen Stuhl zurück schiebe und mir einen Teebeutel holen möchte. Doch sobald ich eigenständig stehe, ohne mich an etwas festzuhalten, geben meine Knie unter mir nach und ich komme ins Straucheln. Um meinen Fall abzufangen greife ich nach meiner Stuhllehne und höre gleichzeitig, wie zwei andere Stühle schlagartig nach hinten geschoben werden und über die Dielen kratzen. Und noch bevor meine Hand die rettende Stuhllehne erreichen kann, hält mich jemand am Arm fest und zieht mich wieder auf die Beine.
„Hayley!“
Und wieder diese Besorgnis in seinen Augen.
„Du solltest alles etwas langsamer angehen. Immerhin hast du eine Gehirnerschütterung.“
„Hör mal, Hayles, nach gestern Abend solltest du dich wirklich noch eine Weile ausruhen und nicht gleich sofort herumspringen, wie ein junges Reh. Der Arzt hat dich gestern untersucht und eine Gehirnerschütterung diagnostiziert. Damit solltest du vorsichtig umgehen und dir wirklich Ruhe gönnen.“
Mir ist nicht mehr schwindelig, aber trotzdem dreht sich in meinem Kopf alles. Was war eigentlich passiert? Ich hatte kaum noch Erinnerungen an des gestrigen Abend. Ich weiß, dass es Bekkas Geburtstagsfeier war, die mich hier her geführt hat und ich weiß auch noch, dass ich hoch in das Gästezimmer gelaufen bin, um mein Telefon aus meiner Tasche zu holen, um mit Kale zu telefonieren … Alles dreht sich noch viel schneller in meinem Kopf. Bildfetzen tauchen vor meinem inneren Auge auf und ich kann nicht entscheiden, ob sie meiner Fantasie oder der Wahrheit entspringen. Ich sehe Kale, wie er am Fenster steht, etwas in seiner Hand hält und mich böse anschaut. Ich denke mich daran erinnern zu können, wie wir uns gestritten haben und er dann wutentbrannt … Ich schüttle umwillkürlich meinen Kopf.
„Was hast du Hayley?“
, fragt mich Nick, eine Hand auf meine gelegt. Eine beruhigende Geste. Ich blicke hoch:
„Was ist gestern Abend passiert?“
Nick zieht die Augenbrauen hoch und in seinen Augen spiegelt sich Panik wieder. Sein Blick wandert von meinen Augen über die Tischplatte zu Bekka. Beide wechseln besorgte Blicke aus. Seine Lippen stürzen sich, er greift nach seiner Kaffeetasse und dreht sie hin und her. Mein Blick haftet weiter fragend auf ihm. Plötzlich lässt er seine Tasse los, strafft seine Schultern und wendet sich zurück zu mir:
„Willst du das wirklich wissen?“